Dienstag, 20. Oktober 2009

Griff in den Himmel

Griff in den Himmel

Ihr Herz raste. Jeder einzelne Schlag hallte in ihren Ohren nach. Sie atmete tief ein um sich zu beruhigen und ein Gemisch der unterschiedlichsten Gerüche drang in ihre Nase. Geröstete Mandeln, Popcorn, trockenes Stroh. Sie blickte nach unten in die Manege. Zwei Clowns fesselten mit ihren Späßen die Aufmerksamkeit der etwa 100 Zuschauer. Sie bewarfen sich mit Torten, stolperten über ihre viel zu großen Schuhe und spritzen sich Wasser ins Gesicht. Danach war sie an der Reihe. Ihr erster großer Auftritt vor Publikum. Unbewusst hatte sie die Luft angehalten. Sie atmete durch den Mund aus, während die Menschen unten über die nächste Pointe lachten. Ein Junge von etwa 10 Jahren schaute nach oben zur Spitze des Zirkuszeltes. Er schenkte ihr sein Lächeln und zwinkerte ihr mit einen Auge zu. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr direkt durch die Augen in ihre Seele blickte. "Das kann nicht sein," dachte sie, "ich sitze doch noch komplett im Dunkeln." Sie schüttelte kurz den Kopf und blickte auf die gleiche Stelle. Der Junge war verschwunden. Eine Torte flog in das Gesicht des Clowns, was vom Publikum mit lauten Lachen quittiert wurde. "Gleich bin ich dran", dachte das Mädchen, "gleich." Während sie aufstand ging sie im Kopf noch einmal die ganze Nummer durch. Jeder Schritt, jede Bewegung war jahrelang eingeübt worden. Sie dachte an ihre ersten Schritte auf dem Seil, das harte tägliche Training, ihre unbeschreibliche Freude, wenn eine Nummer endlich geklappt hatte und an die unzähligen blaue Flecke, bis es geklappt hat. In diesem Moment waren die Clowns mit ihrer Nummer fertig und verließen unter tosenden Beifall, von den Scheinwerfern verfolgt die Manege. Der Zirkusdirektor, ein hochgewachsener Mann in schwarzen Frack, mit Zylinder und gezwirbelten Schnurrbart betrat die Manege. Die Scheinwerfer folgten ihm, bis er in der Mitte der Manege stehen bleib.

"Und nun hochverehrtes Publikum, verehrte Damen, verehrte Herren, liebe Kinder habe ich die Ehre eine Weltpremiere im Zirkus Modelini anzukündigen." Er machte eine kurze Pause um die Wirkung seiner Worte zu verstärken. Mit donnernder Stimme fuhr er fort. "Meine jüngste Tochter bei ihren ersten Auftritt vor Publikum. Richten sie ihre Augen auf das Hochseil und begrüßen sie mit einem donnernden Applaus Annette." Plötzlich war die Welt um sie herum weiß von den auf sie gerichteten Scheinwerfer. Sie kniff die Augen zusammen und lächelte, so wie sie es geübt hatte, bis der Beifall nachließ und der Lichttechniker das Licht auf ein erträgliches Maß dämpfte. Sie verstärkte den Griff um ihre Balancierstange und setzte tief ausatmend den ersten Schritt auf das stählerne Seil. Ihr hautenges silbernes Kostüm glitzerte, während sie vorsichtig zur Mitte des Seils balancierte, verfolgt vom Scheinwerferlicht und den weit aufgerissenen Augen des Publikums. Sie spannte ein Bein an, hob das andere Beim langsam vom Seil und beugte sich, die Bewegung mit der Stange ausgleichend langsam nach Vorne. Bis ihr Rücken und das Bein fast waagrecht waren. Die atemlose Stille wurde nur doch einzelne "Ohs" und "Ahs" des Publikums unterbrochen. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, als sie sich wieder aufrichtete. "Der erste Teil ist geschafft," dachte sie, "nun der nächste Teil." Sie ging mit den einen Bein in die Knie, während sie das andere Bein langsam ausstreckte.

Plötzlich ein Schmerz, als ob ein Dolch sich Muskel für Muskel, Sehne für Sehne durch ihren Knöchel bohren würde. Sie versuchte den Schmerz zu ertragen, die lebenswichtige Spannung aufrechtzuerhalten, doch nach wenigen Sekunden gaben die Muskeln dem Diktat des Schmerzes nach und erschlafften. Langsam so unendlich langsam knickte sie zur Seite weg. Sie ließ die Stange los, die in der Tiefe unter ihr verschwand um Bruchteile einer Sekunde später mit einem vom Sand gedämpften Klong aufzuschlagen. Wie in Zeitlupe ruderte sie mit ihren Armen um den unvermeidlichen Sturz in die schwarze Tiefe zu verhindern, wie in Zeitlupe näherte sich der Sandboden, als ihre Füße endgültig das Seil verließen und sie fiel. Sie wollte Schreien, doch etwas schnürte ihr die Kehle zu und unterband die Töne. Dafür schrie das Publikum. Schreckensschreie, Schreie der Überraschung. Eltern, die vergeblich versuchten die Augen ihrer Kinder zu verdecken, damit diese nicht das unvermeidliche Sahen. Auch sie schloss die Augen, erwartete den unvermeidlichen dumpfen Aufprall, den rasenden Schmerz und die danach erlösende Stille der Bewusstlosigkeit doch nichts davon geschah.

Nach einigen Momenten oder waren es doch Jahre öffnete sie ihre Augen. Sie sah kein Zirkuszelt über ihr und sie lag auch nicht auf den sandigen Manegenboden. Sie schien zu schweben. Um sie herum war nur Weiß. Weiß wohin das Auge reichte. Eine Knabenstimme erklang neben ihr: "Willkommen Annette." Sie drehte den Kopf in Richtung der Stimme und sah einen etwa 10 Jahre alten Jungen neben ihr stehen. "Oder schwebte er etwa?", dachte sie. Irgendwoher kannte sie den Jungen, doch sie konnte sich nicht erinnern woher. "Aus dem Zirkus", antwortete der Junge mit sanfter Stimme, "du kennst mich aus dem Zirkus. Ich bewunderte deinen Auftritt." "Woher? Wieso? Weshalb? Was ist eigentlich los", Annette war verwirrt. "Keine Sorge. Du wirst die Antworten auf die Fragen schon noch erfahren, aber nicht heute sondern später." Der Junge strich ihr sanft über die Wange. "Und jetzt schließe deine Augen." Er schloss ihr sanft die Lider und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

Plötzlich Lärm. Sie öffnete verwirrt ihre Augen. Eine Plastikmaske verdeckte ihr Sichtfeld. "1, 2, 3, 4, 5, Beatmen." Eine andere männliche Stimme. "Sie hat die Augen offen." Eine weibliche Stimme von der Seite. "Puls normalisiert sich. Sie atmet wieder, selbstständig." Ein Sanitäter erschien in ihrem Gesichtsfeld. "Nicht Bewegen! Wenn sie mich verstehen schließen sie einmal die Augen für ja und zweimal für nein." Ihm gehörte also die erste männliche Stimme. Sie schloss einmal ihre Augenlider. "Gut. Haben sie Schmerzen?" Zwei Blinzler. "Bewegen sie bitte den Daumen ihrer Hände" Sie bewegte die Daumen. "Ok das scheint zu funktionieren. Jetzt bewegen sie bitte die Zehen." Sie tat es. Der Mann schien verwundert. "Wie kann das sein? Es war doch gebrochen." Er tastet vorsichtig ihren Körper ab. "Schmerzen?" Sie blinzelte zweimal. "Stabilisiert sie und nehmt sie mit. Das kann doch nicht sein." Sie wurde vorsichtig auf eine Trage gelegt und in einen bereitstehenden Krankenwagen unter Blaulicht in das nächste Krankenhaus gebracht. Von dort wurde sie etwa zwei Stunden später wieder entlassen. Bis auf einen verstauchten Knöchel war sie unverletzt.

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